Selbstmanagement - Den Chef führen!


Erschienen in der Fachzeitschrift „HARVARD Business Manager“.


Führung auf mittleren Managementebenen ist meistens nach unten ausgerichtet. Doch auch der Umgang mit dem eigenen Vorgesetzen bedarf viel Aufmerksamkeit. Erkenntnisse aus der Coachingpraxis.

Von Thomas Hake, Sabine Engel und Dietmar Jakobi

Stephanie reicht es. Die Gruppenleiterin eines Unternehmens der Zuliefererbranche bekommt von ihrem Vorgesetzten stets Aufgaben auf den letzten Drücker. Wehrt sie sich, reagiert er gereizt. Stephanie kann sowohl mit der Unberechenbarkeit der Aufträge als auch mit den beleidigenden Reaktionen schlecht umgehen. Zusammen mit einem Coach entwickelt sie eine neue Strategie nach dem Motto „Grenzen setzen und nachhalten“. Sie dokumentiert neue Vorfälle und spricht sie an. Der Chef gelobt Besserung, sie sammelt weitere Verfehlungen und bezieht - gegen den Willen des Chefs, aber mit seinem Wissen - den Bereichsleiter ein. Mit Folgen: Stephanie fühlt sich zwar zunehmend freier für ihre eigenen Führungsaufgaben, doch der Kontakt zu ihrem Vorgesetzten kühlt merklich ab.  
Wer wie Stephanie eine Führungsfunktion auf einer mittleren Hierarchiebene wahrnimmt, hat zunächst das Anliegen, dass in seinem Zuständigkeitsbereich alles rund läuft. Das bedeutet, die vorgegebenen Ziele umzusetzen, Mitarbeitern ein Vorbild zu sein, mit Kollegen auf gleicher Ebene zu kooperieren. Der Blick der Führungskraft ist dabei im Wesentlichen nach unten gerichtet. Doch mit den ersten auftauchenden Konflikten wird schnell deutlich: es fehlt der Blick nach oben. Manager der mittleren Führungsebene versäumen es häufig, einen Teil der ihrer Aufmerksamkeits-, Zeit- und Kommunikationsressourcen für den eigenen Vorgesetzten zu reservieren. Sie führen andere, vergessen aber, dass sie zugleich geführt werden. Ihr Handlungsspielraum ist begrenzt. Und dabei entstehen reichlich Konflikte, denen im Kern ein Machtthema innewohnt.

Aus unserer Arbeit als Coaches wissen wir, dass mit solchen Konflikten konstruktiv umgegangen  werden kann. In diesem Artikel erklären wir die Machtfrage für Manager in mittleren Ebenen und führen vier Optionen auf, wie aus einer nahezu handlungsunfähigen Führungskraft wieder eine handlungsfähige werden kann. Wir dokumentieren das anhand einer Vielzahl von Fällen, die wir seit mehr als fünfzehn Jahren begleitet haben. Wir greifen bewusst auch solche Geschichten auf, die für die Klienten nicht gut ausgegangen sind. Alle Fälle die wir in diesem Artikel aufführen sind im Kern authentisch, lediglich die äußeren Umstände sind verfremdet.

Das Gros unserer Klienten stammt aus der Gruppe der Führungskräfte im mittleren Management. Für diese Manager wird in der Praxis oft der Begriff des Sandwich-Managers verwendet. Wir  verzichten bewusst darauf und besinnen uns auf das, was die Führungskräfte wirklich sind: Manager und Managerinnen der mittleren Führungsebenen.

Jene Manager haben nur sehr begrenzte Möglichkeiten, am Verhalten ihrer Vorgesetzten direkt etwas zu ändern. Das hat objektive Gründe. Im Handlungsrahmen hierarchisch aufgebauter Organisationen stürzen Änderungswünsche von unten den Vorgesetzten in ein Dilemma. Ändert er sein Verhalten, handelt er dem gängigen Bild eines durchsetzungsstarken, selbstbewussten Chefs zuwider. Sein Außen- und Selbstbild nimmt Schaden. Schottet er sich hingegen ab, entspricht er dem Erwartungsbild eines bornierten, lernunfähigen Chefs – und das Problem schwelt weiter. Wer seinem Chef Verhaltensänderungen nahelegt, steigt – ungeachtet des Stils, mit dem er es tut – in einen Machtkampf ein. Machtkämpfe haben Sieger und Verlierer. Gewinnen kann dabei letztlich nur, wer die stärkere Position hat.

Im Fall von Stephanie hat sie mit ihrer Strategie zweierlei erreicht: dass der Kampf bislang nicht in offene Feindschaft umgeschlagen ist; und dass sie sich dank ihrer Selbstdisziplin bislang noch keine Blöße gegeben hat. Doch der Preis für Stephanies Lösungsstrategie ist hoch: Die persönliche Beziehung ist wahrscheinlich zerstört. Es braucht wenig Phantasie sich vorzustellen, wie sich ihr Chef gerade fühlt. Die Einschaltung des Bereichsleiters hat ihn  bloßgestellt und in einen Machtkampf verstrickt, den er nur schwer steuern kann. Schwer vorstellbar, dass die persönliche Beziehung irgendwann wieder ins Lot kommt, trotz der vielen Gespräche. Gut vorstellbar hingegen, dass der Chef nur auf die Gelegenheit wartet, um die aufsässige Mitarbeiterin endlich loszuwerden.

Die Krux mit der Macht

Manager der mittleren Ebenen kommen in ihrem Alltag regelmäßig mit den zwei Seiten der Macht in Berührung: In unseren Coachings erleben wir viele Führungskräfte, die mächtig agieren und aber auch zugleich ohnmächtig sind. Das liegt im Wesentlichen an ihrer Position, sie sitzen selten in strategischen Entscheidungsgremien, sondern sind eher die klassischen Umsetzer. Ihr Job ist es, Vorgaben und Impulse anderer in effektives und effizientes Management sowie in vorbildhaftes Führungshandeln zu verwandeln. Diese Relais-Funktion setzt ein hohes Maß an innerer Flexibilität voraus: die Fähigkeit, sich mit Fremdem so zu identifizieren, dass es als etwas Eigenes erscheint. Es ist also in diesen Positionen ein gewisses Maß an Ohnmacht eingebaut, das täglich zu verkraften ist. Gerade in Krisensituationen ist es hilfreich, sich bewusst zu machen, dass man in der Relais-Funktion unter anderem auch für das Aushalten dieser Situation bezahlt wird.

Andererseits liegt viel Macht bei den  Akteuren im mittleren Management. Sie können im und mit ihrem Team einiges bewirken. Ihr Management- und Führungshandeln hat Folgen. Ihr Nichthandeln aber auch: Sie können Vorgaben und Impulse von oben ganz oder teilweise wegfiltern. Es ist ein offenes Geheimnis, dass viele Changeprojekte daran scheitern, dass die mittleren Führungsebenen nicht mitziehen. Es gibt Formen der Obstruktion, die aus der Vorstandsperspektive wie Engagement aussehen – aber unten kommt nichts an. So gesehen, haben die in der Mitte eine erhebliche Macht im Unternehmen. Diese Manager sollten ein klares Bewusstsein für die Besonderheit ihrer Position entwicklen: Macht und Ohnmacht spielen beide eine Rolle.

Der Fall von Jutta, einer Ex-Abteilungsleiterin eines großen Finanzkonzerns, offenbart ein Machtgefälle, das ihre Eigenständigkeit verhindert und sie in die Ohnmacht drängt. Jutta bekam von ihrem Chef das Feedback, sie kommuniziere zu introvertiert. Sie wurde in ein internes Training geschickt, um den „kulturkonformen“ Wandel im Führungsverhalten herbeizuführen. Doch danach brach der Konflikt erst richtig auf: Der Vorgesetzte bat Jutta immer wieder zu Review-Gesprächen. Die verunsicherte Abteilungsleiterin begann, sich einzuigeln. Sie setzte Aufträge nicht um, und auch die Gespräche gestalteten sich zunehmend schwierig. Der Vorgesetzte kündigte schließlich ein Dreiergespräch mit der Personalchefin an, aber noch vor diesem Termin erhielt Jutta die Kündigung.

Wenn eine Führungskraft einer anderen durch ihr Verhalten signalisiert oder offen sagt: „Ändere dich“, dann kann vieles dahinterstecken. In jedem Fall ist es eine heikle Botschaft. Eine Führungskraft darf Eigenständigkeit beanspruchen. Sie wird dafür bezahlt, dass sie im Rahmen der Vorgaben selbstständig, also aus eigenem Denken und Fühlen heraus handelt. Ändert  eine Führungskraft wesentliche Teile ihres Verhaltens wie im Fall Jutta verlangt, beugt sie sich einem fremden Willen.

Der Coach arbeitet mit Jutta genau diesen Punkt heraus: Was hat zu ihrer Verweigerungshaltung geführt? Welche Empfindlichkeiten, auch Glaubenssätze wurden von den Forderungen ihres Vorgesetzen berührt? Dabei zeigt sich: Jutta beharrt auch im Nachhinein auf ihrem Recht als Führungskraft, ihren eigenen Führungsstil zu entwickeln und zu leben. Aber sie kann auch anerkennen, dass es womöglich dieser Trotz war, der sie den Job gekostet hat – der fundamentale Trotz gegen die Einmischung eines Vorgesetzten in persönliche Verhaltensweisen. „Er ließ mich nicht einfach sein, wie ich bin! Ich durfte plötzlich nicht mehr handeln, wie ich es für richtig halte!“ So hatte die geschasste Abteilungsleiterin Jutta es empfunden.

In eine solche Trotzhaltung kann man sich regelrecht hineinsteigern. Der Konflikt wird dann als Kampf zwischen zwei Individuen mit unterschiedlicher Machtverteilung wahrgenommen. Machtkonflikte tendieren zur Personalisierung und äußern sich in Respektverlust, Trotz, Hass oder psychosomatischen Reaktionen. Ebenso das Moralisieren, die stille oder auch laute Abwertung des Gegenübers („unfähig“, „unehrlich“, „arrogant“, „zynisch“). Irgendwann, nach vielen Leiden, ist es quasi eine Erlösung, wenn man sich trennt.

Wie lässt sich dieses Auswachsen eines Konflikts im Fall von Jutta zu einem klassischen Machtkampf vermeiden? Welche Möglichkeiten haben Führungskräfte, der offenen Konfrontation mit ihrem Chef aus dem Weg zu gehen? Müssen sie alles so aktzeptieren, was ihnen widerfährt? Soll jede Art von Widerstand gegen demütigende Verhaltensweisen und Ansagen von oben eingestellt werden, um überleben zu können? Soll sich der Manager oder die Managerin klaglos dem Führungsstil des Vorgesetzten anpassen? Viele Führungskräfte, darunter solche mit schweren Symptomen der sogenannten „Sandwich-Krankheit“ (anklagende Haltung, Demotivation, Verunsicherung, Angstzustände, psychosomatische Beschwerden), sitzen irgendwann bei uns im Coaching und stellen sich genau diese Fragen.

So bleiben Sie handlungsfähig

Das Agieren in einer Führungsposition ist und bleibt Handeln unter Risiko, gerade auch im Umgang mit übergeordneten Ebenen. Coaching kann dieses Risiko nicht vollkommen ausschalten, aber doch deutlich verringern, wie wir  an einigen Beispielen zeigen werden. Unsere Handlungsempfehlungen können als Auftakt für ein Coaching verstanden werden.

Die Perspektive wechseln

Aufgrund unserer Erfahrungen steht für uns fest: Anklagen und einseitige Änderungserwartungen helfen in solchen Konfliktsituationen nicht weiter. Solche Verhärtungen sind Teil des Problems, nicht Teil der Lösung. Jede Lösung muss mit der Bereitschaft beginnen, die eigene Position zu hinterfragen. Das ist leicht gefordert und schwer umzusetzen. Und genau das hören wir oft: „Sie haben gut reden, Sie müssen das nicht tagtäglich ertragen!“ Trotzdem führt kein Weg daran vorbei. Dafür braucht es zunächst einen Entschluss: allen Ärger und alle Kränkung für einen Augenblick beiseite zu schieben und mit einer anderen Brille auf das Geschehen blicken. Nur so entsteht die Chance, dass sich so etwas wie Verständnis, vielleicht sogar eine Einstellungsänderung entwickeln kann.

Es hat sich im Coaching bewährt, durch gezielte Perspektivwechsel eine bestimmte Haltung anzustreben: die  Gleich-Gültigkeit. Die Geschichte von Frank zeigt, was gemeint ist. Frank arbeitet in einem multinationalen Chemiekonzern als Teamleiter am Standort Brasilien. Er leidet unter einem aus seiner Sicht laschen, entscheidungsschwachen Chef, der irgendwo in Europa sitzt und ihn dazu verdonnert hat, diplomatischer und weniger fordernd zu sein. Durch diese Änderungsforderung entsteht ein hoher Leidensdruck: Wenn Frank der Forderung nachkäme, würde er aus seiner Sicht seine Arbeit nicht richtig machen können und vielleicht sogar sein Team verlieren.

Glücklicherweise ist Frank bereit, versuchsweise die Brille seines Vorgesetzten aufzusetzen: Was habe ich – als Chef – an Franks Führungsstil eigentlich auszusetzen? Warum sollte er es anders machen? Wie stelle ich mir erfolgreiche Führungsarbeit in seinem Team vor? Frank lernt auf diese Art nachzuvollziehen, warum sein Vorgesetzter ihn so behandelt. Er versteht aber auch, dass er sich selbst nicht völlig umkrempeln muss. Er kann die eigenen Prioritäten ernst nehmen, kann aber auch den Chef mit seinen Reportingpflichten und Zwängen gelten lassen. Das meint das Prinzip der Gleich-Gültigkeit: Beide Standpunkte sind gleich gültig, haben jeweils auf ihre Art Recht. Frank kann auf den Notwendigkeiten beharren, die er für seine Arbeit sieht. Gleichwohl ist er empathischer geworden und beginnt, zaghaft, aber erkennbar, auch seinen eigenen Führungsstil zu hinterfragen. Ein Novum für ihn.

Sicherlich ist diese Haltung der Gleich-Gültigkeit kein Allheilmittel für beschädigte Beziehungen im mittleren Management. Je mehr Antipathien im Spiel sind, desto schwerer ist es, zu dieser Haltung zu gelangen. Aber gerade dann lohnt es sich am meisten. Die Chancen liegen darin, die Borniertheit der eigenen Haltungen und Gefühle zu durchbrechen und Respekt vor dem Gegenüber mit seinen persönlichen Eigenarten und Rollenzwängen zu entwickeln. Der Perspektivwechsel führt zwar nicht automatisch zu einer dauerhaften Einstellungsänderung, aber er eröffnet die Chance, etwas zu akzeptieren, mit dem man, nüchtern betrachtet, vielleicht ganz gut existieren kann. Und dieses Akzeptieren kann letztlich doch zu Verhaltensänderungen führen – bestenfalls und nach einiger Zeit sogar beim Gegenüber, dem Chef.

Die Deutung ändern

Sascha steckt in einer ganz anderen  Situation, als er zu uns ins Coaching kommt. Er ist ratlos und frustriert. Sein amerikanischer Chef hat ihm vor Monaten einen Auftrag der Marke superwichtig erteilt: Sascha soll ein Restrukturierungskonzept für seinen Bereich erarbeiten und der deutschen Niederlassungsleitung präsentieren. Doch dazu kommt es nie. Immer sind den Vorständen andere Dinge wichtiger. Sascha fühlt sich doppelt abgehängt: Vom Vorstand, aber auch vom Vorgesetzten. Denn aus Amerika bekommt er trotz hartnäckiger Nachfragen keinerlei Rückendeckung.

Im Coaching gesteht er ein, dass er bei seinem Arbeitgeber, einem großen IT-Konzern, am liebsten kündigen würde. Der Coach fragt ihn, wie er den aktuellen Nutzen seines Konzepts einschätzt, welche Kernprobleme des Unternehmens damit gelöst werden und welche Priorität die Lösung dieses Problems aus seiner Sicht gerade hat. Sascha erkennt, dass sein Konzept im Gesamtkontext offensichtlich nicht (mehr) so wichtig ist. Die Verärgerung über den schweigenden Chef ist damit noch nicht aus der Welt. Hier hilft die simple Frage weiter, wer in diesem Fall die Macht hat. Sascha gesteht sich seine Ohnmacht ein – und lernt loszulassen. Die Maxime lautet: „Entspann dich und sorg dich nur noch um das, was du ändern kannst. Wo du nichts ändern kannst, akzeptier deine Ohnmacht.“ Sascha ist auf die Präsentation weiterhin bestens vorbereitet, aber er forciert nichts mehr.

Glücklicherweise kann Sascha mit dieser Lösung leben. Andere könnten das vielleicht nicht. Denn in der Sache hat sich ja nichts verändert: Der Chef schweigt weiter, und das Ganze bleibt unverständlich. Geändert hat sich aber die Sichtweise, Saschas Deutung. Das Coaching hat dazu geführt, das Problem aus seinem persönlichen Deutungsrahmen herauszulösen und in einen anderen, größeren Rahmen zu setzen. Der Terminus für solche Umdeutungen im Coaching heißt reframing (von Englisch „frame“ für Rahmen). Ein Rahmenwechsel bringt Aspekte zum Vorschein, die der oder die Betroffene zuvor nicht sehen konnte oder wollte: etwa die eigene Ohnmacht oder neue, vorerst undurchsichtige Prioritäten im Unternehmen. Das kann – wie im Fall von Sascha – extrem entspannend wirken.

Die Großwetterlage reflektieren

Die Aufforderung, den Deutungsrahmen zu ändern bedeutet oft, den Blick weit zu stellen. Vielen Führungskräften unter Druck hilft es, neben ihren eigenen Rollen im System auch die des Chefs mitzureflektieren. In welchen Machtkonstellationen oder Relais-Funktionen steckt mein Vorgesetzter gerade? Hat er vielleicht Aufträge, von denen ich nichts weiß? Steht er selbst unter Druck? Viele Änderungsforderungen von oben erklären sich beispielsweise aus offenen oder verkappten Changeprojekten. Da werden vielleicht Abteilungen umgebaut, zusammengelegt oder abgewickelt,  Prioritäten ändern sich infolge weit reichender Entscheidungen oder sogar Führungsleitbilder im Zuge von Strategieprozessen. Nicht jede Change-Initiative wird mustergültig durchgeführt – nicht immer erhält der Mittelbau die Chance zu einer echten Beteiligung. Viele Forderungen werden einfach nur nach unten durchgereicht. Und dort heißt es dann plötzlich: Dies und das passt mir nicht, du musst dich ändern!
Die Frage, die in einer solchen Situation gestellt werden muss, lautet: Wie ist die Großwetterlage in meiner Organisation? Welche Initiativen, Projekte und Prioritäten gibt es gerade, und was bedeuten sie für mich? In vielen Fällen gilt es auch einfach, eins und eins zusammenzuzählen: Was in Vorstandssitzungen immer wieder unter den Tisch fällt, hat offensichtlich gerade keine Priorität. Eine Abteilung, die nach einer Fusion ältere Mitarbeiter aus unterschiedlichen Bereichen zusammenfasst, wird nicht die volle Aufmerksamkeit und Unterstützung von oben erwarten können – selbst wenn die neu eingesetzte Abteilungsleiterin akut überfordert ist. Solche Einsichten (oder Eingeständnisse) ermöglichen von Fall zu Fall ein entlastendes Reframing.

Gelegentlich können Reflexionen dieser Art sogar jobrettend sein. Margit, Teamleiterin in einer großen deutschen Versicherungsgesellschaft, macht in dieser Hinsicht eine bittere Erfahrung. Sie hatte vor eineinhalb Jahren eine neue Chefin bekommen, die hartnäckig an ihr vorbei ins Team hineinregierte. Margit verstand die Welt nicht mehr: Warum wurde ihre Führungsarbeit plötzlich so torpediert? Der Versuch, im Coaching Gegenstrategien zu entwickeln, kam zu spät. Unsere Klientin wurde noch in der Anfangsphase des Coachingprozesses als Teamleiterin abgesetzt. Der Hintergrund: Ihre Vorgesetzte war von außen geholt worden, um die Abteilungskultur zu ändern, weg von einer Behörde hin zur modernen Organisation. Margit ist, wenn man so will, einem nicht deklarierten (und von ihr nicht durchschauten) Changeprozess zum Opfer gefallen. Margit hätte es helfen können, rechtzeitig einen Blick aufs System zu werfen: Wofür ist meine neue Chefin womöglich eingestellt worden? An welchen Erfolgskriterien wird sie gemessen? Welchen Nutzen kann ich ihr dabei stiften? Was genau kann ich in der neuen Konstellation beeinflussen beziehungsweise gestalten, was nicht?
Auch der mikropolitische Blick aufs Umfeld und die sich darin abzeichnenden Machtkonstellationen hilft Führungskräften, Änderungsforderungen besser zu verstehen oder gegebenenfalls neu deuten zu können. Wem stehe ich gerade im Weg? Wen bedrohe ich? Sieht der Linienvorgesetzte vielleicht einen potenziellen Konkurrenten in mir? Erregt die Unterstützung, die ich von einem Senior Manager erfahre, bei den Kollegen auf gleicher Stufe Neid und Widerstände? Die Mikropolitik ist ein weites Feld, und man ist größtenteils auf Beobachtungen und Hypothesen angewiesen. Aber es lohnt sich, in kritischen Situationen auch dieses Feld zu beleuchten und alles zusammenzustellen, was man wahrnimmt. Denn der forschende Blick aufs System und das mikropolitische Umfeld bewahrt Führungskräfte einerseits davor, Änderungsanforderungen persönlich zu nehmen, die mehr mit dem Kontext als mit ihnen zu tun haben. Findet die Führungskraft für belastende Verhältnisse einen überpersönlichen Deutungsrahmen, ist oft bereits der Stachel gezogen. Andererseits bewahrt ein weiter Blick davor, Kontextentwicklungen oder Machtkonstellationen zu übersehen, die bedrohlich werden könnten – oder es bereits sind.

Unserer Erfahrung nach  lohnt sich ein kritischer Blick auf das Organigramm des Unternehmens beziehungsweise der Organisationseinheit, in die die Führungskraft hierarchisch eingebettet ist. Und so funktioniert es: Markieren Sie die hierarchieübergreifenden und informellen Kommunikationswege und analysieren Sie die unterschiedlichen Interessen. Welche Vorgaben ergeben sich daraus für Ihre Funktion? Was können Sie (noch) gestalten? Welche Maßnahmen leiten Sie ab, um den Anforderungen, die sich daraus für Ihre Position ergeben, gerecht zu werden? Wie können oder wollen Sie sich unter diesen Rahmenbedingungen einbringen und als Problemlöser positionieren?

Den Blick nach Innen richten

Machtreflexion, Anerkennung der Gleich-Gültigkeit, Rollenklarheit, der Blick aufs System und Reframing: All das ist extrem wichtig, aber doch nur die eine Hälfte der Weisheit. Führungskräfte im mittleren Ebenen mit ihrer eigentümlichen Relais-Funktion sind mehr als alle anderen auf eine gründliche Selbstreflexion angewiesen – erst recht im Krisenfall. Ziel ist es, größtmögliche Klarheit über die eigenen Bedürfnisse, Präferenzen und Interessen, Ziele und Grenzen zu erlangen. Und gegebenenfalls darüber, welche Bereiche meines Verhaltens Sie ändern möchten und welche nicht.

Sicherlich müssen diese Führungskräfte vieles hinnehmen, aber verbiegen dürfen sie sich nicht. Aus Selbstschutz, aber auch aus Karrieregründen. Wer allen Änderungswünschen willfährig nachkommt, kann nicht erwarten, als führungsstarke, autonom und authentisch handelnde Persönlichkeit wahrgenommen zu werden. Daher bitten wir Führungskräfte unter Änderungsdruck häufig: Angenommen, Ihr innerer Ratgeber, Ihr Bauch, könnte in dieser Situation zu Ihnen sprechen – was genau würde er Ihnen jetzt für Ihr weiteres Vorgehen raten? Nach unserer festen Überzeugung haben alle Menschen einen inneren Kompass. Bei solchen Fragen kommt er zum Vorschein – nicht selten wie ein gutes altes Stück, das man schon lang nicht mehr benutzt hat.

Nils kommt mit einem aussichtslos scheinenden Problem ins Coaching. Als Schlüssel- und Vermittlerfigur eines mittelständischen, inhabergeführten Unternehmens hat er seit seiner Einstellung vor zwei Jahren auftragsgemäß alles versucht, um das Arbeitsklima zu verbessern. Dabei war er rasch zu dem Ergebnis gekommen, dass der Firmeninhaber selbst die Wurzel des Übels ist. Dieser blockiert jede vernünftige Zusammenarbeit durch seine selbstherrlichen, oft kaum nachvollziehbaren Entscheidungen, mit denen er in alle Bereiche hineinregiert und die gesamte Belegschaft einschließlich der angestammten Führungsriege demotiviert. Das Unternehmen atmet auf, sobald der Chef im Urlaub ist.

Nils hat alle Möglichkeiten des Nach-oben-Führens ausgeschöpft, hat reflektiert, Verständnis entwickelt und geweckt, moderiert, abgepuffert, geschickt zurückgespiegelt, Vereinbarungen getroffen. Alles ohne Erfolg. Im Zweifel macht der Chef, was er will. Er agiert wie ein Gott, für den keine Regeln gelten, erst recht nicht die von ihm selbst gesetzten. Aus seiner Sicht hat natürlich Nils versagt. Dieser resigniert schließlich und macht gegen seine Art und Überzeugung Dienst nach Vorschrift, wie alle anderen auch. Nervlich ist er am Ende.

In dieser Situation hilft nur eine gründliche Bestandsaufnahme. Was bringt mir das Verweilen im System, und was kostet es mich? Welche Ressourcen und Optionen habe ich innerhalb des Systems noch, welche habe ich außerhalb? Wie wird es mir gehen, wenn der derzeitige Zustand noch ein oder zwei Jahre fortwährt? Wie lange kann ich mit meiner Familie eine eventuelle Arbeitslosigkeit überstehen? Durch solche Fragen kommt Nils zu dem Resultat, dass seine persönliche rote Linie überschritten ist: Bleiben kostet ihn mehr als gehen. Er beginnt aktiv mit der Suche nach einem anderen Job und definiert für sich einen Zeitpunkt, an dem er dem Unternehmen spätestens verlassen haben will. Verhältnisse, die man weder ändern noch akzeptieren kann, muss man verlassen.

Fazit

Einen Ausgleich mit den Gegebenheiten und Vorgaben finden, ändern, was man ändern kann, und akzeptieren, was nicht zu ändern ist: Das sind wesentliche Erfolgsfaktoren für Manager und Managerinnen in mittleren Hierarchieebenen. Klar ist: Mit guter Führungs- und Managementarbeit allein ist es nicht getan. Die eigenen Chefs, das mikropolitische Umfeld und die Großwetterlage im System dürfen größere Teile der Aufmerksamkeit beanspruchen. Je eher Sie sich das klar machen und den Blick weiten, desto besser.

Thomas Hake, Hake Kommunikation
Sabine Engel leitet die Abteilung Coaching bei Neuland & Partner in Fulda.

Dietmar Jakobi arbeitet als Coach und Coaching-Ausbilder in Kooperation mit Neuland & Partner